Rußland wird auferstehen
Michail Gorbatschow über die Politik Jelzins und über seine Chancen einer Rückkehr zur Macht
Von Mettke, J. R.; Meyer, F.; Neef, C.
SPIEGEL: Michail Sergejewitsch, Sie haben für Rußland große Dinge vollbracht, jetzt ist Rußland in Gefahr. Wann greifen Sie ein?
GORBATSCHOW: Es ist nicht so, daß ich nichts tue. Ich analysiere die Situation und nehme zu den großen Problemen Stellung, und zwar mit aller Schärfe. Ich bin dabei nicht leidenschaftslos wie ein Beobachter von außerhalb, denn was immer heute geschieht, hängt mit dem zusammen, was ich 1985 begonnen habe. Die Ära Gorbatschow ist nicht zu Ende, sie fängt jetzt erst richtig an.
SPIEGEL: Aber Sie verändern Ihr Land nicht mehr.
GORBATSCHOW: Ich verlange nicht, die heutigen Machtstrukturen zu demontieren oder auch nur zu ändern. Ich fordere von denen an der Macht nur Mut zu Entscheidungen, und den Mut vermisse ich. Man zeigt nur den Mut, meine Kritik zu ignorieren.
SPIEGEL: Wohin führt das?
GORBATSCHOW: Die Folge davon ist, daß sich Präsident Jelzin völlig isoliert hat – wie wir sagen: Er hat sich in eine Pfütze gesetzt. Eigentlich müßte er daraus lernen. Noch ist seine Autorität ein _(* Das Gespräch führten die Redakteure ) _(Jörg R. Mettke, Fritjof Meyer und ) _(Christian Neef. ) Potential. Das einfachste wäre, wenn er begreifen würde, daß er eine nationale Aufgabe zu erfüllen hat. Jeder fragt sich, warum der Präsident schweigt.
SPIEGEL: Was soll er denn tun?
GORBATSCHOW: Er muß seine Rolle als nationaler Führer erkennen und ausüben. Niemand weiß, was er will. Je mehr die Zeit fortschreitet, desto mehr schrumpfen die Chancen wie ein Chagrin-Leder. Das Drama vollzieht sich wie bei Balzac, aber bald riecht es schon mehr nach Shakespeare.
SPIEGEL: Und was tun Sie, wollen Sie wieder ein politisches Amt?
GORBATSCHOW: Wenn diese Herausforderung an mich herantreten würde, könnte ich selbstverständlich eine politische Funktion übernehmen. Aber es geht auch ohne ein offizielles Amt, das sieht man bei Chinas Deng Xiaoping. Er übt seinen Einfluß aus, ohne einen Führungsposten. Wenn von der Gesellschaft Signale kämen, daß Gorbatschow eine größere Verantwortung übernehmen soll, würde ich nicht ausweichen.
SPIEGEL: Woher erwarten Sie solche Signale?
GORBATSCHOW: Im Obersten Sowjet, in der Regierung und außerhalb des Parlaments gibt es Bewegungen, die ihre Gestalt suchen. Mir am nächsten steht die linkszentristische Position. Ich sehe viele Möglichkeiten in der Bürger-Union. Dort sind meine potentiellen Anhänger, zu denen ich auch Kontakte pflege. Jelzin hat den großen Fehler begangen, seinen Dialog mit der Bürger-Union abzubrechen.
SPIEGEL: Sie haben sich aber auch jüngst mit dem Repräsentanten der freien Unternehmer, Konstantin Borowoi, der Öffentlichkeit vorgestellt.
GORBATSCHOW: Ich sehe überall Kräfte und Persönlichkeiten, mit denen ich zusammenarbeiten kann. Auch unter den Konservativen gibt es Leute, die ernst zu nehmen sind und sich der Verantwortung für das Land nicht entziehen. Es gibt ein breites Spektrum, auf das man sich stützen kann.
SPIEGEL: Gehört auch Jelzin dazu?
GORBATSCHOW: Er hat die Schwäche einer gewissen Zaren-Attitüde, die unserem Volk nicht fremd ist: Ihr müßt mir einfach glauben, ich bin euer Präsident. Noch hört man hin, aber dieser Appell verschleißt sich. Man muß es so machen wie Präsident Aylwin von Chile – da bin ich gerade gewesen, der stützt sich sowohl auf christliche Demokraten wie auch auf Sozialisten. Damit hat er die größten Reformerfolge erzielt.
SPIEGEL: Wie ist Ihr persönliches Verhältnis zu Jelzin? Grüßen Sie ihn noch auf dem Roten Platz?
GORBATSCHOW: Ich würde ihn grüßen, wenn ich ihn treffen würde. Unsere letzten Kontakte hatten wir über die Presse. Er kommt mit seinen ernannten Beratern schon nicht zurecht, wie soll er da Ratschläge von mir annehmen? Aber hin und wieder gebe ich ihm welche. Ich bin doch nicht kleinkariert und beleidigt.
SPIEGEL: Sie waren als Generalsekretär der KPdSU 1985 einer der mächtigsten Männer der Welt. Sie haben einen großen Prozeß der friedlichen Transformation eingeleitet, der abgebrochen ist; es kam zu Blutvergießen. Warum ließ sich die kontrollierte Entwicklung nicht mehr fortsetzen?
GORBATSCHOW: Ein großer Bewußtseinswandel hatte stattgefunden. Bei dem Versuch, das neue Denken in die Praxis umzusetzen, kam die Revolution von oben zum Stillstand. Jetzt ging es darum, das ganze Volk einzubeziehen, damit die Nomenklatura den Reformprozeß nicht wieder abwürgen konnte.
SPIEGEL: Das System begann sich zu wehren.
GORBATSCHOW: Die Parteibürokratie, die Ministerien, all diese Lehnsfürsten leisteten Widerstand. Auch die Industrieherren, die Direktoren, fürchteten um ihre Macht. Es war wie der Sturm in der Taiga: In den Wipfeln rauschte es, am Boden aber blieb es still. So war es schon hundert Kilometer hinter Moskau.
SPIEGEL: Den einen ging es zu langsam, den anderen war alles zu radikal.
GORBATSCHOW: Und Gorbatschow mußte das Schiff der Perestroika durch die Klippen steuern. Dabei konnte man noch nicht Dinge ankündigen, für die das Volk noch nicht reif war. Man hätte mich für verrückt erklärt, das Volk wäre zerrissen worden, es hätte zum Bürgerkrieg kommen können. Man mußte Geduld zeigen, bis die Parteibürokratie so entmachtet war, daß sie das Rad der Geschichte nicht mehr zurückdrehen konnte. Am Ende hatte die Partei zum Fahren nicht mehr genug Dampf, ihre Kraft reichte gerade noch, ein letztes Mal die Hupe zu betätigen.
SPIEGEL: Demnach war die Macht der Nomenklatura gebrochen.
GORBATSCHOW: Und da ist mir die russische Führung in den Rücken gefallen. Das russische Parlament berief sich darauf, daß seine Gesetze über den Gesetzen der Union stünden. Ich habe Jelzin entgegengehalten, die Union kann nicht ohne Rußland existieren, Rußland aber auch nicht ohne die Zusammenarbeit mit anderen Republiken, sonst droht Rußland der gleiche Leidensweg, wie ihn die Union gehen mußte. Genau das, was ich damals, im Dezember 1991, vorausgesagt habe, ist eingetreten. Diese Entwicklung war also kein Zufall und auch keine historische Notwendigkeit.
SPIEGEL: Die Union ist tot . . .
GORBATSCHOW: . . . aber das Land lebt noch. Krank, verwundet, gelähmt – aber es ist noch am Leben. Das, was an alten Unionsbeziehungen noch vorhanden ist, bewahrt uns vor der Katastrophe. Die Ukraine, Kasachstan, Litauen – sie stecken alle in einer tiefen Krise.
SPIEGEL: In Litauen haben aber gerade eben Kommunisten eine freie Wahl gewonnen. Was wünschen Sie sich mehr?
GORBATSCHOW: Wer da gewonnen hat, das sind nicht mehr die alten Kommunisten. Sie nennen sich auch nicht mehr so. Ehemalige Kommunisten sind wir alle, auch Jelzin, Krawtschuk. Der Präsident von Armenien, Ter-Petrossjan, der war früher ein Häftling.
SPIEGEL: Michail Sergejewitsch, Sie sind kein Kommunist mehr?
GORBATSCHOW: Wenn Sie meine Aussagen nehmen, dann wird Ihnen klar, daß meine politischen Sympathien der Sozialdemokratie gehören und der Idee von einem Sozialstaat nach der Art der Bundesrepublik Deutschland.
SPIEGEL: Wie bitte?
GORBATSCHOW: Ich möchte Ihr Land nicht idealisieren, aber ich bin für einen Staat, der für soziale Sicherheit sorgt, einen Rechtsstaat mit einem funktionierenden Parlamentarismus, der eine Föderation von weitgehend selbständigen Bundesländern mit einem kräftigen Zentrum darstellt. Ich habe das in Bonn und in München selbst erlebt – wie sie ihre Interessen aufeinander abstimmen.
Und ich habe Hochachtung für das starke demokratische Bewußtsein der Bevölkerung, die sich den Neonazis widersetzt. Bei grundsätzlichem Bekenntnis zum Liberalismus greift der deutsche Staat aktiv in das soziale Leben und in die Volkswirtschaft ein, ich halte das für richtig.
SPIEGEL: Wir haben ein paar Probleme . . .
GORBATSCHOW: . . . ich weiß. Trotzdem ist Ihr Staat für mich eines der positiven Vorbilder, wie sich liberale, demokratische, sozialistische und allgemeinmenschliche Wertvorstellungen in Einklang bringen lassen.
SPIEGEL: Die Partei, die Ihnen nahesteht, die Bürger-Union, ist nicht gerade sozialdemokratisch.
GORBATSCHOW: Doch, auf unsere russische Art.
SPIEGEL: Die Stimmung im Lande scheint mehr einer Lust an der Anarchie zuzuneigen.
GORBATSCHOW: Irrtum, alle trachten danach, um jeden Preis einen Bürgerkrieg zu vermeiden, denn solche Konflikte wären eine Tragödie. Lassen Sie sich nicht von der Oberfläche täuschen. Demagogische Attacken gibt es aus der extrem rechten wie der extrem linken Ecke, aber weder die einen noch die anderen können reale Kräfte in größerem Umfang mobilisieren. Hier muß sich die Mitte durchsetzen. Die Stimmung in der Armee ist so ähnlich: gegen Konflikte, gegen Bürgerkrieg. Aber eine entsprechende Gefahr existiert natürlich. Soziale Spannungen steigern sich. Nur demokratische Entwicklungen können uns aus dieser Krise herausführen.
SPIEGEL: Die demokratische Mitte – sind das nicht Jelzin und Gaidar?
GORBATSCHOW: Sie haben die Mehrheit der Bevölkerung innerhalb eines Jahres an die Grenze der Armut getrieben. Das Realeinkommen ging pro Kopf um ein Viertel zurück, etwa 70 Prozent der Bürger haben ein monatliches Einkommen unter 6000 Rubel; um auf mitteleuropäischem Durchschnittsniveau zu leben, braucht man nach IWF-Berechnungen aber 111 000 Rubel. Damit ist klar, wie zwei von drei Menschen jetzt leben müssen. Wie kann ich da diese Regierenden noch als Demokraten bezeichnen?
SPIEGEL: Was sind sie denn?
GORBATSCHOW: Ihre Methoden wirken in vielem wie Neobolschewismus, Neostalinismus. Sie wollen erst einmal alles zerschlagen, alles ruinieren und dann neu aufbauen – wie die Bolschewiken. Das ist ein gefährliches Abenteuer und keine Politik. Ich sage das ganz offen, als Warnung.
SPIEGEL: Gehen Sie damit nicht zu weit?
GORBATSCHOW: Ich riskiere hier viel, wenn ich das so freimütig sage, aber ich muß das tun, so wie unsere Aufklärer Ende Mai/Anfang Juni 1941 offen davor warnten, daß Deutschland die Sowjetunion am 22. Juni angreifen werde. Das wurde ihnen nicht gedankt, und auch ich reflektiere nicht auf Dankbarkeit.
SPIEGEL: Dennoch droht kein Bürgerkrieg wie an der Peripherie Rußlands?
GORBATSCHOW: Das sind Konflikte, die schon früher unterschwellig siedeten: die Lage der Minderheiten, die Grenzfrage – alles äußerst brisant. Die gefährlichsten Langzeitbomben, die durch den Zerfall der Union gelegt wurden, sind noch gar nicht zur Explosion gekommen. Deswegen muß man unbedingt die Probleme der Gemeinschaft in den Griff kriegen. Wenn es überall in Rußland brennt, wird es äußerst schwierig sein, eine neue Föderation zustande zu bringen.
SPIEGEL: Sie haben jetzt über die Fehler der anderen gesprochen. Was betrachten Sie als Ihr größtes Versäumnis, solange Sie noch an der Macht waren?
GORBATSCHOW: Wir kamen zu spät mit der Parteireform. Wir haben die Schwierigkeiten des Reformprozesses in der multinationalen Föderation unterschätzt – diese Dinge haben uns die Separatisten aus der Hand genommen. Auch in der Wirtschaftspolitik hätte man damit anfangen müssen, Landwirtschaft, Lebensmittel- und Leichtindustrie zu reformieren.
SPIEGEL: Wäre die Partei noch früher zerbrochen, wäre die Union noch früher auseinandergefallen, wenn Sie die Staatsgeheimnisse um das Katyn-Massaker, um das Protokoll zum Hitler-Stalin-Pakt früher enthüllt hätten?
GORBATSCHOW: Wir hatten die Tatsache, daß die Geheimprotokolle existieren, längst eingeräumt, bereits 1989 auf dem 2. Volksdeputiertenkongreß. Uns fehlten lediglich formelle Beweise. Was Katyn angeht, so tauchte die bekannte Mappe unmittelbar vor meinem Rücktritt auf. Ich erfuhr von ihr erst im Dezember 1991, wie auch Jelzin und Jakowlew.
Es ist auch völlig klar, warum wir so lange nichts finden konnten. Denn genau diese Mappe enthielt neben anderen Dokumenten eine Anordnung der KGB-Führung, nach der alle Unterlagen zu vernichten waren. Aber bereits 1990, als wir auf die Listen der Erschossenen gestoßen waren, haben wir diese sofort der polnischen Seite übergeben. Das wurde damals veröffentlicht. Was sollte mein Interesse gewesen sein, diese Mappe zu verstecken? Zu diesem Zeitpunkt hatten wir doch bereits wesentlich mehr Untaten Stalins aufgedeckt.
SPIEGEL: Ein Beschluß des Stalinschen Politbüros, unterschrieben von allen Mitgliedern, daß über 25 000 Polen zu erschießen sind, ist eine neue Dimension. Das hätte die ganze Kommunistische Partei desavouiert.
GORBATSCHOW: Nein. Stalin ist Stalin. Für das, was er getan hat, ist der einfache Kommunist nicht mitverantwortlich und auch nicht die ganze Partei. Wir würden dann das Gute mit dem Bösen total vermischen. Warum soll irgendein Arbeiter im Bergbau oder in einem Stahlwerk an den Verbrechen dieser Gruppe die Schuld mittragen? Er hat doch nichts davon gewußt.
SPIEGEL: Es gab auch in Ihrer Familie Opfer des Stalinismus.
GORBATSCHOW: Ja, der Großvater meiner Frau ist erschossen worden, und mein Großvater wurde eingekerkert, blieb aber am Leben.
SPIEGEL: An einigen Moskauer Häuserwänden steht zu lesen: «Die UdSSR lebt». Könnten Sie das unterschreiben?
GORBATSCHOW: Das Land lebt. Die Sowjetunion von früher ist tot, und es ist sinnlos, sie reanimieren zu wollen. Aber ohne eine Kooperation in einer Gemeinschaft oder Union, wie immer das heißt, können weder die Ukraine noch Rußland miteinander leben, die anderen erst recht nicht. Zäune und Grenzen, die nicht transparent sind, muß man nachher doch wieder abbauen, so wie man jetzt die Raketen auseinandernimmt.
Russen, Ukrainer und Belorussen sind Zweige von einem Baum. Auch in Rußland sind wir nicht einfach nur Russen, sondern Rußland-Bürger. Das ist schon eine sehr einzigartige Gemeinschaft. Jeder von uns hat das Blut von drei, vier, fünf Völkern in sich.
SPIEGEL: Im Amt haben Sie Gewaltanwendung in Litauen und im Kaukasus zumindest zugelassen. Ist militärische Gewalt heute legitim, um russische Bürger im nahen Ausland zu schützen?
GORBATSCHOW: Zunächst zu Litauen: Die bekannten Ereignisse dort lasten nicht auf meinem Gewissen. Die Verhängung des Ausnahmezustandes über Baku war wegen ungeheuer gefährlicher Entwicklungen unausweichlich. Gewaltanwendung zum Schutz russischer Bürger schließe ich kategorisch aus, ausgenommen die Schaffung von schnellen Eingreiftruppen. Die sollten im Rahmen der GUS eingesetzt werden – durch kollektive Entscheidung in einem GUS-Sicherheitsrat nach Uno-Vorbild, wenn es überhaupt nicht anders geht. Namibia, Afghanistan, Nicaragua – alle Konflikte der Vergangenheit konnten wir nur beilegen, weil wir wirksame politische Entscheidungen durchsetzen konnten.
Militärisches Eingreifen hat immer alles nur verschärft und gewaltige Zerstörungen wie Opfer gefordert, die jahrzehntelange Entfremdung zur Folge hatten. Deswegen glaube ich überhaupt nur an politische Möglichkeiten. Wenn man aber nur noch die Kräfte auseinanderhalten kann, um das Schlimmste zu verhindern, dann bin ich auch für ein Eingreifen.
SPIEGEL: Beispielsweise in Jugoslawien?
GORBATSCHOW: Ja. Aber ich kann jene Politiker nicht unterstützen, die uns vorschlagen, erst mal Bombereinsätze zu fliegen. Das ist doch keine taugliche Entscheidung, wenn wie in Vietnam ganze Regionen von der Landkarte verschwinden. Das würde noch blutigere Auseinandersetzungen nach sich ziehen. Manchen Politikern juckt es offenbar richtig in den Fingern, aber in ihren eigenen Ländern würden sie so niemals vorgehen.
SPIEGEL: Michail Sergejewitsch, Sie haben in Deutschland mächtiges Vertrauenskapital angesammelt, haben Sie den Eindruck, daß die heutige russische Regierung daraus den möglichen Nutzen zieht?
GORBATSCHOW: Nein. Die Zusammenarbeit mit Deutschland könnte ganz anders aussehen. Aber es darf keine Enttäuschung aufkommen, weder in der Bevölkerung noch in der Regierung. Rußland ist ein natürlicher, wichtiger Partner, und es gibt 500jährige Traditionen der Zusammenarbeit. Russen wie Deutsche, die Welt wie Europa brauchen die russisch-deutsche Zusammenarbeit.
SPIEGEL: Was läßt sich konkret erreichen?
GORBATSCHOW: Man muß in die Regionen gehen. Die sind gewaltig. Wer da schon drin ist, der hat Erfolg. Aber da kommt die deutsche Psychologie zum Tragen: Es muß alles ordentlich vonstatten gehen, über eine Entscheidung von oben, auf Regierungsebene.
SPIEGEL: Ist das nicht russische Psyche? Manche behaupten nun, der Westen sei geradezu zur Hilfe an Rußland verpflichtet. Wäre es nicht umgekehrt hilfreicher und heilsamer, wenn sanfter Zwang von außen Rußland zur Selbsthilfe nötigen und Hilfe auf das Allernotwendigste reduziert würde?
GORBATSCHOW: Wir haben in Bonn eine Konferenz abgehalten unter dem Motto: «Investitionen in Rußland – Investitionen in die Zukunft». Das ist nicht nur eine Metapher, sondern stimmt auch im Kern. Denn einen dermaßen schwierigen Übergang von dieser Dimension kennt die Geschichte nicht, da kann uns keines der früheren Modelle helfen. Zusammenarbeit ist von lebenswichtiger Bedeutung.
SPIEGEL: Wir meinen Hilfe, nicht wirtschaftliche Kooperation.
GORBATSCHOW: Wer kann schon diese Billionen für diesen riesigen Staat ausgeben? Wenn man von Hilfe spricht, sollte man keine Übertreibungen zulassen. Was sind denn schon diese 24 Milliarden Dollar der Industriestaaten, von denen immer die Rede ist? Die Deutschen wissen das doch besser, wenn sie allein 100 Milliarden Mark im Jahr nur für Ostdeutschland benötigen. Dann sind 24 Milliarden Dollar für das große Rußland ein Klacks. Das ist doch alles nur Geschwätz.
SPIEGEL: Nach seiner Größe, seiner Geschichte, seinem Potential und seinem multikulturellen Hintergrund gebührt Rußland der Rang einer Weltmacht. Wie kann diese Rolle zurückgewonnen werden – und wann?
GORBATSCHOW: Das hängt vor allem davon ab, welchen Weg wir einschlagen an dieser Kreuzung, vor der wir jetzt stehen. Hält das momentane Chaos weiter an, wird vieles von diesem kostbaren Potential entwertet.
SPIEGEL: Rußland überlebt . . .
GORBATSCHOW: . . . ich bin überzeugt: Rußland wird auferstehen und aufsteigen wie der Phönix aus der Asche. Darüber braucht sich niemand zu sorgen. Sooft es auch bedrängt wurde, dieses Land hat immer überlebt. Aber ich wünsche mir, daß dies nicht nur spontan geschieht. Wer da glaubt, er könne die Probleme durch Rückkehr zum Totalitarismus in den Griff bekommen oder durch autoritäres Machtgehabe wie manche in unserer Führung, der unterliegt einer gefährlichen Fehleinschätzung. Das Land ist inzwischen anders, es ist nicht mehr dasselbe Land wie früher.
SPIEGEL: Drei Generationen lang war Rußland das Experimentierfeld des Staatssozialismus. Warum gerade Rußland: Historischer Zufall, oder gab es dafür nationale Voraussetzungen?
GORBATSCHOW: Man sollte das nicht mystisch sehen, sondern das Jahr 1917 in seinen realen Kontext stellen. Und dann muß man sich fragen, was da los war, ja auch in Deutschland, und warum bei uns – anders als bei Ihnen – die Bolschewiki an die Macht kamen? Weil es die Alternative zur Militärdiktatur war.
SPIEGEL: Und es gab keine demokratische Tradition.
GORBATSCHOW: Es hat Stalin geholfen, daß uns an politischer Kultur kaum mehr zur Verfügung stand als die Allein- und Selbstherrschaft der Zaren. Freiheitlich-demokratische Traditionen gab es zwar im Volk, aber demokratische Institutionen, Wahlen, parlamentarische Praxis steckten nur in den allerersten Anfängen.
SPIEGEL: Danach hätten Oktoberrevolution und mehr als 70 Jahre Kommunismus den Weg Rußlands zur Demokratie nur unterbrochen – ohne Eigenes für diesen Entwicklungsweg beizusteuern?
GORBATSCHOW: Ich möchte diese siebeneinhalb Jahrzehnte nicht durchstreichen als eine Periode, in der es nichts gegeben habe an Positiv-Demokratischem, nichts von Freiheit und sozialer Gerechtigkeit. Vieles von dem, was hier gerade im sozialen Bereich getan wurde, ist doch später von der anderen Welt übernommen worden: kostenlose Bildung und medizinische Betreuung, soziale Sicherheit und anderes.
SPIEGEL: Vielleicht sind Sie doch noch Kommunist?
GORBATSCHOW: Ich sage nur, es gibt da Dinge, die man nicht vergessen darf – und auf die das Volk auch nicht verzichten will.
SPIEGEL: Die GUS ist tot. Eine neue Föderation entsteht, aus den slawischen Republiken und Schritt für Schritt aus ihren Freunden. Diese neue Konföderation sucht sich einen Geschäftsführer, der durch Leistungen ausgewiesen ist und der die Milliarden aus dem Ausland ranholt – und der ein Optimist ist. Ist das Ihre Prognose?
GORBATSCHOW: Hauptsache ist, daß eine solche Konföderation entsteht. Einen Führer wird man dann schon finden.
SPIEGEL: Sagen Sie seinen Namen.
GORBATSCHOW: Mir liegt sehr daran, daß der dann schon aus einer neuen Politikergeneration stammt. Das werden Leute sein, die nicht mehr durch die Last der Vergangenheit geprägt sind, sondern für die Probleme der neuen Weltzivilisation ein besseres Verständnis mitbringen. Eine der wichtigsten Aufgaben in meiner Stiftung ist die Förderung dieser neuen Politikergeneration. Eine Gesellschaft ist reif, wenn sie es fertigbringt, den richtigen Nachwuchs für die Lösung ihrer Probleme auszubilden.
SPIEGEL: Dann kennen Sie schon den künftigen Präsidenten einer solchen Konföderation.
GORBATSCHOW: Ich kenne zumindest einige hoffnungsvolle Kandidaten.
SPIEGEL: Michail Sergejewitsch, wir danken Ihnen für dieses Gespräch.
* Das Gespräch führten die Redakteure Jörg R. Mettke, Fritjof Meyer und Christian Neef.
DER SPIEGEL 3/1993
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Posted on 2014/05/11
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